Ihr Lieben!

Mein Opa ist gestorben. Ich war überrascht als ich die Nachricht bekam. Auch wenn alle – er selbst inbegriffen – nur darauf zu warten schienen, dass er endlich loslassen könnte, zeigte mir meine Überraschung, dass der Verstand solche Dinge eben doch nicht wirklich begreifen kann. Dass ich irgendwie darauf eingestellt war, dass alles „ewig“ so weiter gehen würde.

Als ich mich kurz nach meiner Ankunft ier in Stade mal wieder fragte, was ihn eigentlich noch hier hielte, bekam ich eine Antwort, die für mich neu war. Sie lautete: wenn wir, also seine Familie, seine Kinder und Enkel, in Frieden mit uns selbst kämen, dann würde er seinen annehmen können.

Ich bin seit meiner Ankunft hier im Januar auf vielen Ebenen im Unfrieden gewesen. D. h., inzwischen weiß ich, dass ich das nicht erst seit meiner Ankunft hier bin, sondern dass hier der Unfrieden, den ich eigentlich schon seit langem mit mir herumtrage, einfach richtig aufgeblüht und plötzlich unübersehbar geworden ist.

Ich habe ja bereits darüber geschrieben, dass ich kurz nach meiner Ankunft die Erkenntnis hatte, dass manchmal gar nichts leicht geht, egal wohin man sich wendet, weil es Widerstände aus dem Inneren sind, die auftauchen und das Leben einem keine Möglichkeit gibt, sich von ihnen abzuwenden. Weil es an der Zeit ist, sich dem Thema, das hinter dem Widerstand liegt, anzunehmen, anstatt es zu meiden. So ging es mir mit diesem Ort und den Menschen hier.

In den letzten Tagen ist mein Widerstand zu Höchstform aufgelaufen. Gestern konnte ich nach einem Gespräch mit einer guten Freundin endlich auch ein Bild greifen, das mir meine Situation verständlich machte (ich habe es bestimmt schon öfter hier geschrieben – ich kann meine Situation immer erst dann annehmen, wenn ich sie verstehe): mir wurde plötzlich klar, dass ich mich irgendwie in einer Art verspäteten Pubertät befinde. Meine Unzufriedenheit, mein Mangel, mein Gefühl, dass nichts (gut) genug sei (nicht die anderen, nicht mein Leben, und schon gar nicht ich) – alles konnte ich plötzlich erkennen als ein Ausdruck dieses Gefühls, was die meisten von uns als Teenager durchmachen: die Empörung, wenn wir uns etwas ganz doll wünschen, dass wir überzeugt sind, unser ganzes Glück hinge davon ab – und dann bekommen wir es nicht. (Es heißt, dass sich bestimmte Lebensthemen in einem Zyklus von 18 Jahren schließen. Vor 18 Jahren war ich 16.)

Ich habe sogar – wie ich dachte ironisch – in einem Gespräch mit meiner Mutter (mit wem sonst) diese Worte benutzt: „Kann nicht einfach nur ein einziges Mal alles ganz genauso sein, wie ich das will!?“ Wir mussten beide lachen, aber gestern wurde mir klar, dass genau das der Punkt war – das war die Wahrheit dieses Teils von mir, der mich in letzter Zeit dominiert hat. Und wie immer, ist das Problem nicht gewesen, dass es diesen Teil in mir gab, sondern, dass ich ihm keine Aufmerksamkeit schenken wollte, weil ich ihn unausstehlich, unangebracht und peinlich fand.

Aber genau das ist das Menschenleben, egal in welcher Lebensphase: total unausstehlich, voller unangebrachter und peinlicher Gefühle. Trotzdem oder vermutlich gerade deswegen bezaubernd schön. Und ich komme immer und immer wieder zum gleichen Schluss: es hilft nienienie, das, was mich am Menschsein stört – egal ob mein eigenes oder das der anderen – eliminieren zu wollen.

Es hilft immer nur: es annehmen. Mich und andere für all das Bescheuerte zu lieben. Das war auch der Rat meiner Freundin: hör auf, dir selber leid zu tun. Gib dir Liebe, statt Selbstmitleid.

Akzeptiere, dass du in diesen Extremen lebst, dass du ständig pendelst zwischen „Alles ist toll“ und „Alles ist furchtbar“ und dass es dir schwer fällt, irgendwo in der Mitte mal einen Fuß auf die Erde zu bekommen.

Und plötzlich war es ganz leicht, noch viele andere Dinge, die mich in letzter Zeit so an mir angekotzt hatten – und die ich deshalb auch irgendwie nicht so richtig wahr haben wollte – zu sehen und mir zu sagen, „Na, dann ist das eben so“. Meinen Hang zur Dramatik, dass eben alles entweder wunderschön oder dunkelschwarz ist. Dass ich heule, wenn ich unter Druck stehe und dann mein ganzes Leben infrage stelle. Dass ich diejenige bin, die mich unter Druck setzt, niemand sonst. Meine Unzufriedenheit. Meine Undankbarkeit. Dass ich oft den Fokus darauf habe, was nicht in Ordnung ist, anstatt darauf, was alles gut läuft. So bin ich. Und so bin ich schon immer gewesen.

Und obwohl dieser Teil von mir, der die Dinge einfach nicht so annehmen will oder kann, wie sie sind, mich auch schon immer sabotiert hat, ist auch folgendes wahr: egal, wie viel Raum dieser Teil in meinem Leben eingenommen hat – sei es durch Essstörungen, Depression oder Burn-out – er hat mich noch nie wirklich daran hindern können, mein Leben zu leben. Das finde ich sehr tröstlich. Dass das irdische Leben, so begrenzt es sein mag, trotzdem auch immer Platz hat für diesen Teil, der einfach nicht funktionieren will oder kann. Dass es Raum gibt, für meinen Widerstand, für mein Nicht-im-Fluss-Sein, für meine Selbstsabotage. Dass die echte Fülle so groß ist, dass sie auch meinen Mangel dulden kann. Denn das ist auch wahr: egal, wie sehr ich meinem eigenen Glück im Wege gestanden habe, es ist trotzdem immer noch jede Menge zu mir durchgedrungen. Und: ich habe auch trotzdem immer alles erreicht, was mir wirklich wichtig war.

Als ich gestern all diese Dinge sehen konnte, konnte ich plötzlich auch spüren, wie dankbar ich meinem Opa war. Dankbar, dass er mich in sein Haus gelassen hat, das er so geliebt hat und aus dem er selbst sich seit er im Pflegeheim war, vertrieben gefühlt hat. Und dass ich das die ganze Zeit nicht wirklich gespürt hatte und ihm folglich auch nicht gezeigt hatte. Im Gegenteil, ich bin Opa viel aus dem Weg gegangen – weil ich ihn anstrengend fand. Fordernd, und selbst wenn man sich bemühte, seinen Forderungen gerecht zu werden, man es doch niemals richtig machen konnte.

Ich fand, es wäre eine gute Demutsübung für mich, gerade etwas für jemanden zu tun, der selbst genauso unzufrieden und undankbar wie ich war. Ich überlegte sogar, ob ich ihm nicht irgendwie seinen Wunsch erfüllen könnte, ihn zurück ins Haus holen und die Situation irgendwie lösen. Mir wurde eigentlich schon im gleichen Moment, wie ich diesen Gedanken fasste, klar, dass das keine Idee war, die sich in Wirklichkeit so gut anfühlen würde wie die Vorstellung. Ich wusste, dass ich ihm das nicht anbieten würde. Aber ich wusste auch, dass ich ETWAS für ihn tun wollte.

Als ich heute Morgen dann die Nachricht erhielt, dass Opa gestorben war, verstand ich: das war er also, der Frieden, der gefehlt hatte. Und: nur, weil Opa seinen Frieden endlich annehmen konnte, bedeutet noch lange nicht, dass ich „aus dem Schneider“ bin. Klar, in diesem Augenblick bin auch ich im Frieden. Aber es ist immer noch eine gute Idee, mich in mehr Demut und Respekt vor dem irdischen Leben zu üben. Mehr zufrieden sein, mehr annehmen.

Denn egal, wie unzulänglich und unliebenswürdig ich mich in seiner Gegenwart gefühlt habe, dieser Mensch hat mich in Wahrheit eben doch geliebt. So sehr geliebt, dass er mich in seinem Haus hat wohnen lassen. Das Haus, das er selbst für sich und seine Familie gebaut hat, das er so geliebt hat und in dem er selbst nicht mehr leben konnte, was ihn sehr schmerzte. Selbst nach unserem Streit, gleich nach meiner Ankunft, hat er mir niemals das Gefühl gegeben, nicht mehr willkommen zu sein.

So lange wir leben, sind wir in diesem Wechselspiel, wo mir mal im Fluss sind, mal im Widerstand gegen den Fluss und uns am Ufer festklammern. Ich weiß, dass die Erkenntnis, dass eben doch Liebe hinter allem steckt, egal wie sehr ich daran zweifeln mag, nicht ewig halten wird. Es wird die nächste irdische Situation kommen, die mich wieder zweifeln und vergessen lässt. Ich bin umso dankbarer, es in diesem Augenblick spüren zu können: es steckt Liebe in allem. Das Leben ist in Wahrheit schön, selbst wenn es dunkelschwarz ist. Und auch wenn ich an die Ewigkeit der Seele glaube und an unzählige Leben – dieses gibt’s nur einmal.